Lehrstuhl für Finnougristik
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Nachruf auf Dr. phil. habil. Hartmut Katz

Hartmut Katz 1943-1996

Am 26. September 1996 verstarb in München Dr. phil. habil. Hartmut Katz. Sein viel zu früher Tod bedeutet für die Uralistik den Verlust eines Wissenschaftlers, dessen Liebe zu seinem Fach in enormem Arbeitseifer und größter Genauigkeit Ausdruck fand. Seine philologische Gründlichkeit und seine stets unmittelbar am Sprachmaterial orientierte Arbeitsweise sind nicht nur Kennzeichen seiner Veröffentlichungen, sie machten ihn darüberhinaus zu einem fesselnden Lehrer und einem gar strengen Kritiker. Sein tiefes Verständis für das Wesen von Sprache war das Ergebnis einer breiten linguistischen Bildung weit über das eigentliche Feld der uralischen Sprachen hinaus.
          Geboren am 9. Juli 1943 in Stuttgart, Gymnasiast in Landshut und München, betrat Hartmut Katz 1962 in München die akademische Welt durch das Tor der Klassischen Philologie. Nach zwei Semestern wechselt er in die Indogermanistik W. Wissmanns, daneben studiert er Indologie bei H. Hoffmann und Hethitologie bei A. Kammenhuber. Im Jahr 1965 nimmt  H. Katz bei Ernst Lewy in Dublin Privatunterricht und wird von diesem mit der Finnougristik bekanntgemacht. Die Begegnung mit Lewy, ein Jahr vor dessen Tod, ist in mehrerlei Hinsicht für den wissenschaftlichen Werdegang H. Katz' bedeutsam gewesen. Lewy war ein Allgemeiner Sprachwissenschaftler, der die Finnougristik sein Hauptarbeitsgebiet nannte. Ähnlich verstand auch Katz die Finnougristik als ein Spezialgebiet der Allgemeinen Sprachwissenschaft. E. Lewy war u. a. ein Schüler der Junggrammatiker K. Brugmann und B. Delbrück gewesen, welche eine Tradition verkörperten, der sich H. Katz ein Leben lang verpflichtet fühlen sollte. Und E. Lewy war nicht zuletzt eine Persönlichkeit, deren "Güte und Verzicht auf unverbindliche Umgangsformen" und "stete Bereitschaft zum Umdenken wie Kompromisslosigkeit in der Sache" – so H. Katz 1971 in seinem Nachruf auf seinen bewunderten Lehrer – bei einem jungen Wissenschaftler in den Jahren vor 1968 Leitbildcharakter genießen konnte. Die von den Junggrammatikern formulierte Lehre von der "Ausnahmslosigkeit der Lautgesetze" war H. Katz stets eisernes Gesetz, sie war das Fundament, auf dem allein historische Linguistik aufbauen konnte. 1954 war in der Finnougristik dieses Fundament gewaltig erschüttert worden. E. Itkonen legte mit der Geschichte des Vokalismus der ersten Silbe im Tscheremissischen und in den permischen Sprachen eine Theorie der systemorientierten Entwicklung von Vokalen vor, in der bislang unzulässige sporadische Lautveränderungen wie sprunghafter Wandel und Spaltung mit einer teleologischen Funktion, der Schaffung von "Systemganzheit", begründet wurden. Sie sollte als Überwindung der klassischen Methode W. Steinitz' gelten. Ihren schärfsten Gegner fand diese Theorie in Steinitz selbst, der auf dem Finnougristenkongreß 1960 in Budapest erklärte, er halte "es für methodisch nicht zulässig, derartig weitgehende Verallgemeinerungen, die im Widerspruch zu allen historisch-quellenmäßig gut belegbaren Sprachentwicklungen stehen, gerade auf Grund der rein hypothetischen Entwicklung von Sprachen ohne ältere Denkmäler vorzunehmen", und insgesamt die Schlüsse Itkonens als einen "circulus vitiosus" ablehnte. Steinitz war 1967 gestorben, und als H. Katz in der Finnougristik aktiv wurde, war der unmittelbare Disput zwischen Steinitz und Itkonen bereits vorüber. Für den jungen Katz galt es, sich zu entscheiden. Katz, der der Heimat der klassischen Methode, der Indogermanistik, entstammte und von einem Schüler der Junggrammatiker zur Finnougristik gebracht worden war, entschied sich keineswegs überraschend für das Erbe Steinitz' und gegen das Erbe Itkonens. Diese Überzeugung findet man in seinen Arbeiten immer wieder mehr oder weniger explizit formuliert, sie prägte seine Lehrtätigkeit und kommt vielleicht am dramatischsten 1987 in der Rezension von L. Hontis Geschichte des obugrischen Vokalismus der ersten Silbe zum Ausdruck. Katz zeichnet hier scharf den Gegensatz zwischen den beiden prinzipiellen Möglichkeiten zur Erklärung des obugrischen Ablauts. Erstens mit Steinitz, der einen bereits urobugrischen Ablaut postuliert hatte, zweitens mit Honti, der dies ablehnt und die Vokalwechsel in einer Itkonen verpflichteten Weise erklärt. Aus dieser Situation zieht H. Katz die Konsequenz: "die Finnougristik steht an einem Scheideweg. Rez. folgt STEINITZ."
          Nach dem Tode des Doktorvaters W. Wissmann wandte sich H. Katz in München dem Studium der Finnougristik bei G. Ganschow und der Allgemeinen Sprachwissenschaft zu, der Richtung also, die ihm durch E. Lewy vorgezeichnet worden war. Es folgen Studienaufenthalte in Turku und Budapest. Die Linguistik dieser Zeit war generativ. 1968 erscheint N. Chomsky/M. Halle: The Sound Pattern of English, bereits 1967 war M. Bierwischs Skizze der Generativen Phonologie erschienen. Die Lehre der neuen generativen Schule wurde von jungen Linguisten begierig aufgesogen. 1971 promoviert H. Katz mit dem Thema Generative Phonologie und phonologische Sprachbünde des Ostjakischen und Samojedischen. Die Arbeit ist seinem Lehrer E. Lewy gewidmet, was inhaltlich durchaus seine Berechtigung hat, beschäftigt sich die Arbeit doch mit dem Phänomen des Sprachbundes, das auch in Lewys Lebenswerk Der Bau der europäischen Sprachen behandelt wird. Gemäß der Zeit entwickelt diese Dissertation eine große Freude am Formalismus. Es war eine euphorische Zeit. Mit festen politischen Überzeugungen und dem Ziel, ein anderes Verständnis akademischer Bildung zu prägen, revolutionierte die Jugend ihre Universitäten, und die generative Grammatik gab den Linguisten unter ihnen die Sicherheit, so wissenschaftlich wie noch nie jemand zuvor synchrone Sprachwissenschaft zu betreiben. Es ist die Zeit, in der Vorworte und Einleitungen Pamphletcharakter tragen und immer wieder aufgeklärt wird über Methodik im allgemeinen und die Methoden im einzelnen. Und es ist die Zeit, in der H. Katz klug bemerkt, daß Voraussetzung für alle fortführenden Studien die Aufbereitung des Quellenmaterials ist. 1975, im selben Jahr wie seine Dissertation, erscheint der erste Band der Selcupica-Reihe; 1979 die einzigartige Übersicht über die Selkupischen Quellen. Will man aus Hartmut Katz' Arbeit eine Konzentration auf eine bestimmte uralische Sprache herauslesen, wird man sicher das Selkupische nennen. Fünf seiner Bücher, zahlreiche Aufsätze und Lehrveranstaltungen sind dieser Sprache über den gesamten Zeitraum seiner Tätigkeit hinweg gewidmet. Daneben war H. Katz ein ausgezeichneter Kenner der obugrischen Sprachen, insbesondere des Ostjakischen. Von den in Bd. III der Ostjakologischen Arbeiten edierten Texte aus dem Steinitznachlaß wurden zwei von ihm bearbeitet. Hier, wie in den selkupischen Editionen, läßt sich das hervorragende Geschick Katz' bei der textgetreuen Übertragung beobachten. Dieses Vorgehen, das ein tiefes Verständnis von Strukturen fordert und nichts unberücksichtigt läßt, war auch das prägende Element seiner Lehrtätigkeit. Damit übte er eine große Faszination auf seine Studenten aus, die, hatten sie die anfängliche Scheu vor dem strengen und unkonventionellen Menschen überwunden, in ihm einen sicheren Führer durch "den ganzen Laden", wie H. Katz die Uralistik bisweilen nannte, finden konnten.
          1976-1978 ist H. Katz Assistent am Institut für Finnougristik in Wien. Danach kehrt er ans Münchner Institut zurück, wo er als Akademischer Rat Anstellung findet. Im Wintersemester 1989/90 war ihm dort die Lehrstuhlvertretung anvertraut. Mehrere Lehraufträge führten ihn an die Universitäten Regensburg, Salzburg, die FU Berlin und nach Köln.
          1986 habilitiert sich H. Katz in München. Seine (bis dato unveröffentlichte) Habilitationsschrift Studien zu den älteren indoiranischen Lehnwörtern in den Uralischen Sprachen kann vielleicht als Katz' Lebenswerk bezeichnet werden, eine Gewichtung, die u. a. dadurch gerechtfertigt sein mag, daß ihre Überarbeitung ihm bis zu seinem Tode ein brennendes Anliegen war. Neben einem Feuerwerk von nahezu 700 (z. T. bekannten) Etymologien, erschlossen über ein System aus Lautgesetzen, Ablaut und musterhaften Substitutionsregeln, wird in der Einleitung eine auf Steinitz aufbauende, in dieser Form einzigartige uralische Lautlehre präsentiert. Keines seiner Werke vereint so umfassend die auf den Fachgebieten Indologie, Indogermanistik und Finnougristik erworbenen Kenntnisse.
          Neben den in der Habilitationsschrift und in zahlreichen Aufsätzen behandelten indoiranischen Lehnwörtern widmete sich Katz seit den späten Achtzigern auch den germanischen Lehnwörtern im Ostseefinnischen. 1990 mit Bume und Korpsion auch in Form eines Buches. Vor dem Hintergrund präziser sprachlicher Daten wird ein erschöpfender Katalog von Substitutionsregeln erstellt, der eine Reihe von Möglichkeiten zur Erklärung finnischer Wörter als aus dem Germanischen entlehnt eröffnet. Das Buch ist somit als eine richtungs-gebende Vorarbeit zur Lehnwortforschung auf diesem Gebiet konzipiert. In seiner Arbeit war H. Katz kompromißlos. D. h., daß er mit dem Werkzeug des historischen Linguisten soweit vordrang wie es diese Mittel erlaubten, d. h. aber auch, daß er menschliche Rücksichtnahme wissenschaftlicher Konsequenz hintanzustellen sich verpflichtet fühlte. Jedoch scheute er keineswegs die Diskussion und war bereit, Erarbeitetes zu überdenken und Fehler zu korrigieren. Wer Hartmut Katz zum Lehrer hatte, weiß, daß er den Mangel an Diskussion zutiefst beklagte, ihm geradezu verständnislos gegenüberstand. In seinen Rezensionen fand zunehmend ein bitterer Ton Raum. Ausgehend von seiner eigenen methodologischen Strenge, die es ihm erlaubte, klarste Aussagen zu machen, reagierte er empfindlich auf alles, was diffus blieb. Damit gilt ein wenig für ihn selbst das, was er bereits 1971 im Nachruf auf seinen Lehrer E. Lewy geschrieben hatte: "Der Grund, dass Lewy trotz des hohen Niveaus seiner Arbeiten eigentlich zeit seines Lebens verhältnismässig unbeachtet geblieben ist, ist, so will mir scheinen, hauptsächlich der, dass er sich niemals der gängigen Sprachwissenschaft eingefügt hat, immer ein selbständiger Denker war."
          In seinem letzten Aufsatz 'Eine uralische Kausativbildung' war H. Katz zu einem neuen, man könnte sagen versöhnlichen Stil gelangt, der die gewohnte Brillianz im Umgang mit Daten auf angenehme Weise mit einem pragmatischen Vorgehen vereinigt. Umso tragischer, daß sein Tod dieser neuen Periode ein abruptes Ende setzte. Seit den frühen Siebzigerjahren hatte er sich immer wieder mit dem Kamassischen und Koibalischen beschäftigt. Seine letzten Jahre waren diesen Sprachen vermehrt gewidmet, ein großangelegtes Projekt zur Aufarbeitung des aus diesen Sprachen überlieferten Materials, war die Arbeit, aus der ihn Krankheit und Tod rissen. Vieles, wie z. B. umfassende Überlegungen zu einem Modell der uralischen Grundsprache, mußte unausgearbeitet bleiben, sollte von der Erfahrung der noch kommenden Jahre profitieren.
          Den vierten Band der Selcupica hatte H. Katz den Nachbarn seiner Almhütte in Tirol gewidmet, und ihm ein Zitat des Bergbauern vorangestellt: „Der schreibt immer, und wenn er tot ist, was hat er davon?“ Man kann angesichts seines frühen Todes nur dankbar sein, daß Hartmut Katz immer geschrieben hat, er hatte ja nicht viel Zeit. Der Gelehrte Hartmut Katz, Phonologe, Etymologe, Lehnwortforscher und Philologe, verstand sich selbst als einen Arbeiter der Sprachwissenschaft. Sein letztes Lebensjahr war ein Kampf zwischen dem unnachgiebigen Willen zu arbeiten und der Krankheit, die letztlich obsiegte. Ein kleiner Teil seiner Arbeit mag fortgeführt werden können, der Forscher und Lehrer Hartmut Katz fehlt. Für die Früchte seiner Arbeit muß man ihm danken.

 

Gerson Klumpp