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Einführung zum Vortragsabend anlässlich des "Jahres der ungarischen Sprache" (Mária Kelemen, 16. November 2009)

Heute Abend sind wir zusammengekommen, um gemeinsam die ungarische Sprache zu feiern.

Die ungarische Sprache, die für manche in diesem Raum die Muttersprache ist. Unsere geliebte Muttersprache. Für andere ist sie der Gegenstand spannender wissenschaftlicher Forschungen. Und es gibt unter uns auch solche, für die das Ungarische den Lehrstoff darstellt, in der Form von: „A Kertész család Budapesten, a Petőfi Sándor utcában lakik. Ott lakik az egész Kertész család, az anya, az apa és a kis Pisti.

Wie unterschiedlich Grund und Motivation auch sind, uns mit dieser Sprache auseinanderzusetzen, eines verbindet uns alle, wir lieben sie.

2009 ist ein Jubiläumsjahr in Ungarn, das Jahr der Ungarischen Sprache.

Mit vielfältigen Programmen, Initiativen und Veranstaltungen hat man das ganze Jahr über dem Erhalt und der Pflege des Ungarischen besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Die Jahreszahl 2009 ist kein Zufallsdatum. Vor 250 Jahren, am 27. Oktober 1759 wurde Ferenc Kazinczy in Érsemlyén geboren: Kazinczy, der Dichter, Übersetzer und führende Gestalt der Spracherneuerung.

Stolze fünfzehn Tage früher als der große deutsche Klassiker Friedrich Schiller.

Wir gedenken am heutigen Abend in erster Linie des Sprachreformers Kazinczy.

Wir dürfen aber nicht vergessen, besonders hier, in München, im deutschen Sprach- und Kulturraum, die Verdienste Kazinczys bei der Vermittlung der deutschen Literatur und Kultur zu würdigen.

Die Kontakte Ungarns mit der deutschen Kultur sind beinahe so alt wie das ungarische Staatswesen, und Berührungspunkte zwischen den beiden Kulturen waren und sind fast kontinuierlich vorhanden.

Wenn man die heutige Rezeption der ungarischen Literatur und auch Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum betrachtet, kann man mit Recht über einen bilateralen Kulturtransfer sprechen, aber für die früheren Jahrhunderte war noch die Aufnahme deutscher Impulse primär. Für unsere Schriftsteller und Wissenschaftler der Renaissance und der Barockzeit war das deutsche Modell das absolute Vorbild.

Die literarische Rezeption der deutschen Klassik in Ungarn ist nicht nur durch ihren Umfang, sondern auch durch ihre außerordentliche Dimension und Intensität charakterisiert. Diese, für die ganze Menschheit historisch sehr bedeutsame kulturelle Leistung des deutschen Volkes gelangte nach Ungarn, ausnahmsweise nur zum geringeren Teil über Wien. Der Transfer erfolgte unmittelbar aus Deutschland, und zwar durch ungarische Studenten sowie durch die zur Zeit des Absolutismus des Kaisers Franz I. eingekerkerten ungarischen Schriftsteller.

(An dieser Stelle sollte auf die Tatsache hingewiesen werden, dass den deutschen Quellen in diesem Kontext leider nie die ihnen zustehende Wichtigkeit zugeschrieben wurde. Die große, dem Barock folgende geistige, literarische Revolution des 18. Jahrhunderts, als deren Heimat zweifelsohne Frankreich betrachtet werden kann, gelangte durch die Vermittlung deutscher Denker und Autoren nach Ungarn. Trotz französischer Herkunft übernahm man in Ungarn den deutschen Terminus; selbst die ungarische Bezeichnung dieser kultur- und literaturhistorischen Epoche felvilágosodás ist die Spiegelübersetzung des deutschen Begriffes 'Aufklärung'.)

Eine der markantesten Persönlichkeiten der ungarischen Klassik und eine maßgebende Gestalt der Aufklärung in Ungarn war Ferenc Kazinczy. Der Propagandist der Aufklärung begann in den Jahren 1767-68 sich im väterlichen Haus mit der deutschen Sprache vertraut zu machen. Um den Sohn im Deutschen üben zu lassen, schickte ihn sein Vater für ein Jahr nach Késmárk.

(Késmárk liegt in der heutigen Slowakei; sein Name stammt aus dem deutschen Substantiv 'Käsemarkt'. Im 13. Jahrhundert, um 1251, wurde von dem ungarischen König Béla IV. deutschsprachige Bevölkerung in der Ortschaft angesiedelt. Auch noch nach einer Volkszählung im Jahre 1910 waren von insgesamt 6317 Einwohnern 3242 deutschstammig.)

Schon als Philologie- Jura- und Theologiestudent begann Kazinczy sich aktiv mit der Literatur zu beschäftigen. Während eines Aufenthaltes in Wien im Jahr 1777 stieß er auf die Werke von Salomon Geßner (1730-1788) und Christoph Martin Wieland (1733-1813). Seine erste große literarische Unternehmung war eine Geßner-Übersetzung. Geßners 'Idyllen' (1756; 'Neue Idyllen', 1772) hat Kazinczy im Jahr 1788 in Kaschau unter dem Titel Geszner Idylliumi herausgegeben, das Werk war ungarnweit ein großer Erfolg. Mit dem Autor nahm er sogar persönlichen Kontakt auf. In seinen ersten eigenen poetischen Versuchen sind die Spuren seines großen deutschen Vorbildes, Friedrich Gottlieb Klopstocks (1724-1803) unverkennbar.

Wegen seiner Teilnahme an der Jakobiner-Bewegung im Jahr 1794 wurde Kazinczy verhaftet, geriet in Gefangenschaft, war von 1795 bis 1798 in Spielberg, zwischen 1798 und 1800 in Kufstein und zuletzt ein Jahr in Munkács eingekerkert.

Der Gefangenschaft in den Burggefängnissen ging noch eine sehr fruchtbare Übersetzerperiode voraus. Dreizehn ausländische Dramen wurden von ihm übersetzt, darunter 'Stella', 'Die Geschwister und Egmont' von Johann Wolfgang von Goethe; 'Minna von Barnhelm', 'Emilia Galotti' und 'Miss Sara Sampson' von Gotthold Ephraim Lessing. Wegen seiner großen Vorliebe für die deutschen Sentimentalisten, war es ihm ein wichtiges Anliegen, Johann Wolfgang von Goethes 'Werther' zu übersetzen. Die Übersetzung blieb jedoch fragmentarisch, sie erschien erst 1994, gedruckt in korrigierter Fassung.

Warum für ihn die Werke ausländischer Autoren bzw. deren Übersetzung ins Ungarische von besonderer Wichtigkeit waren, fasste er im Jahre 1803 in seiner Studie über Praktische Prinzipien zum Erlangen der Vollständigkeit und Unsterblichkeit zusammen. Seiner Auffassung nach sollte man, um mit dem gebildeten Europa Schritt halten zu können, statt schöne Originale zu schaffen, die Meisterwerke anderer Nationen übersetzen und dadurch die eigene Literatur bereichern. Kazinczy vertrat also, im Gegensatz zu manchen seiner Zeitgenossen, das Prinzip der Kopie: An der Spitze seines Programms stand das klassische Vorbild und daraus folgend das Prinzip der treuen Übersetzung. Dabei schwor er auf die deutschen Klassiker.

Und Kazinczy war es, der die Hauptrichtung der ungarischen Literatur zur Zeit der Aufklärung bestimmte.

Als er aus seiner 2387-tägigen Gefangenschaft zurückkehrte, fiel ihm die literarische Diktatur, sein Jugendtraum, fast von selber in den Schoß. Die völlig unorganisierte und polizeilich eingeschüchterte ungarische Literatur brauchte einen Organisator. Und Kazinczy war ein leidenschaftlicher Bekanntschaftenschließer. Er besuchte und bewirtete die Schriftsteller und baute allmählich sein wunderbares Korrespondenz-System aus, das Jahrzehnte hindurch das ungarische literarische Leben bedeutete. Er wollte und erreichte auch, dass sich alle Fäden beim ihm kreuzten. Er erreichte es, dass ungarischer Schriftsteller zu sein soviel bedeutete, wie Kazinczys Freund zu sein. Er reagierte mit seiner unendlichen literarischen Empfindsamkeit außerordentlich stark auf jedes neue Leseerlebnis. Er gehörte zu jenen Charakteren, die ihr eigenes Leben nur dann lebten, wenn sie es in anderen reflektiert sahen.

Als Kritiker interessierten ihn Inhalt und Komposition weniger, auch nicht die Frage der Originalität, nur der Stil, die Auswahl der Wörter und der Rhythmus des Satzes. Allerdings hatte er gegenüber Stilnuancen ein solch verfeinertes und bewusstes Empfinden, wie seither wenige Schriftsteller und Kritiker in unserer Literatur.

Er selbst schrieb nur wenige Gedichte, die auch nicht die qualitativen Höhen erreichten, wie jene von Berzsenyi oder Kölcsey. Aus seinem literarischen Lebenswerk lebt nur das, was seine Persönlichkeit unmittelbar widerspiegelt: seine gewaltige Korrespondenz und seine Memoiren. Kazinczys Briefwechsel umfaßt 22 große Bände in der Akademie der Wissenschaften. Er war einer der fleißigsten Korrespondenten der Weltliteratur. Den autobiographischen Charakter der Briefe ergänzen seine Memoiren: Pályám emlékezete 'Erinnerungen meiner Laufbahn' und Fogságom naplója, 'Tagebuch meiner Gefangenschaft'.

Kazinczy war ein begeisterter und unermüdlicher „Schreiber“, ein Graphoman, im wahrsten und besten Sinne des Wortes. Auch zu den düstersten und erfreulichsten Realitäten des Lebens gelangte er durch die Literatur. Über die Geburt eines seiner acht Kinder berichtete er einem Freund in einem Brief: „Am 30. Mai arbeitete ich gerade am Streitgespräch Catos mit Caesar, als meine neben meinem Schreibtisch liegende Frau ihr Buch aus der Hand niederlegte und hinüberging in das benachbarte Zimmer, und dort in kürzer als einer Stunde Zeit einen Sohn gebar.“

Für so einen Menschen ist das Schreiben eine Existenzgrundlage. Nimmt man ihm im Gefängnis Tinte und Feder weg, schreibt er mit dem Blut und einem rostigen Nagel - lesen wir in seinen Memoiren.

Es gibt Menschen, die leidenschaftlich gerne schreiben. Es gibt wieder welche, die gerne reden, die aber das Wort auch gern übergeben.

Das tue ich jetzt, indem ich den Vortragenden unserer heutigen Festveranstaltung, Professor Dr. Tamás Forgács zum Rednerpult bitte.

Sein Name wird von den meisten unserer Studierenden mit seinem großartigen Werk „Ungarische Grammatik“ identifiziert. Ich bedanke mich bei Professor Forgács, dass er unserer Einladung gefolgt ist und bitte ihn, seinen Vortrag zu halten. Verehrtes Publikum! Hier die personifizierte Forgács-Ungarische-Grammatik!

(Mária Kelemen)