Ein Semester in Oulu
Als ich mich für ein Auslandssemester in Oulu entscheide, habe ich ein paar klare Vorstellungen. Ich will in Finnland leben, in dem Land, über das ich so viel gehört habe und in dessen Natur ich mich im Sommerurlaub vor zwei Jahren verliebt habe. Diesmal im Winter, so extrem wie möglich – deswegen zieht es mich in den Norden Finnlands, nur 200 Kilometer südlich des Polarkreises. Ich will über die Saami lernen, das letzte indigene Volk in Europa, vielleicht sogar ein bisschen Nord- oder Inarisaamisch lernen. Und vor allem: so viel Finnisch sprechen wie möglich, die Sprache, die ich so lange gelernt habe, so gerne mag und doch so selten verwenden kann. Aber natürlich ist mir klar, dass ich keine Ahnung habe, was mich erwartet, so weit von zuhause entfernt, ohne irgendjemanden an meinem Ziel zu kennen. Es ist ein Sprung ins kalte Wasser, und genau deswegen freue ich mich darauf.
Ins Kalte geht es im wahrsten Sinne des Wortes, denn ich fliege kurz nach Neujahr – als ich in Oulu ankomme, liegt die Außentemperatur bei -30°C. Die ersten Tage fühle ich mich wie in einer anderen Welt. Tageslicht sehe ich nur in der Mittagspause, wenn die Sonne für vier Stunden am Tag über dem Horizont steht. Draußen liegt der Schnee dutzende Zentimeter hoch, bedeckt Bäume, Gebäude und Straßen. Die Kälte ist wie nichts, was ich bisher erlebt habe – so stark, dass mein Handyakku nach einer halben Stunde im Freien den Geist aufgibt und ich manchmal ein Auge nicht öffnen kann, weil meine Wimpern zusammengefroren sind. Selbst mit langer Wollunterwäsche und in ständiger Bewegung lässt es sich nicht länger als ein oder zwei Stunden draußen aushalten. Das hält mich nicht davon ab, in kurzen Vorstößen meine Umgebung zu erkunden. Mein Wohnheim an der Yliopistokatu liegt nur fünf Gehminuten vom Hauptgebäude der Universität entfernt, aber trotzdem inmitten von schneebedeckten Kiefern – das gesamte Viertel ist in den Wald hineingebaut, der große See liegt beinahe in Sichtweite von meinem Fenster, der kleine See fünfzehn Minuten zu Fuß in die andere Richtung. An dessen Ufer entlang laufe ich über versteckte Waldpfade an den Rand der Stadt und weiter in die angrenzende winterliche Wildnis.
Das Semester an der Universität Oulu beginnt am folgenden Montag. Schon bei der Kursauswahl ist klar geworden, dass ich eines meiner Ziele nicht werde erreichen können: Alle Saamischkurse beginnen im Herbst, während meines Aufenthaltes im Frühjahr werden nur fortgeschrittene Kurse angeboten. Auch ansonsten ist das Angebot in der Finnougristik außerhalb der Fennistik eher gering. Stattdessen habe ich Kurse aus dem Bereich der allgemeinen Sprachwissenschaften, meist auf Englisch, und fortgeschrittene Finnischkurse gewählt sowie einen Kurs zu nachhaltiger Entwicklung in der Arktis, der nichts mit meinem Studium zu tun hat, aber spannend klingt. Schon am ersten Tag merke ich, dass das Studium in Oulu sehr anders funktioniert als an der LMU. Ich schreibe während des Semesters keine einzige Klausur – statt einer Hochdruck-Klausurenphase am Ende des Semesters und einer im Gegenzug entspannten Zeit währenddessen ist der Arbeitsaufwand hier konstant hoch. Mein erster Kurs, der 5-ECTS-Kurs zur nachhaltigen Entwicklung, beginnt mit einem vierwöchigen Vorlesungsblock, für den ich zweimal die Woche bis zu 100 Seiten Materialien lesen muss, die dann in Gruppendiskussionen besprochen werden – wie sehr wir uns in den Diskussionen einbringen, wird bewertet. In einem „Learning Diary“ – 300 Wörter pro Vorlesung – sollen wir den gelernten Inhalt reflektieren und beschreiben, ob und wie er unsere Sichtweise verändert hat. Der zweite Teil der Vorlesung besteht aus dreißigminütigen Gruppenpräsentationen, wobei jede Gruppe noch zusätzlich die Aufgabe hat, die Veranstalter über die gerechte Verteilung des Arbeitsaufwandes in der Gruppe auf dem Laufenden zu halten sowie einer anderen Gruppe nach ihrer Präsentation Feedback zu geben. Meine übrigen Kurse sind etwas weniger fordernd, trotzdem ist es nicht leicht, bis Anfang Februar nebenher noch das deutsche Wintersemester zuende zu bringen, für dessen Klausurenphase ich sogar noch einmal für ein paar Tage nach München zurückkomme. Auch im restlichen Semester habe ich neben den Kursen, Hausaufgaben, zu lesenden Materialien, dem Schreiben von Learning Diaries und der Arbeit an zwei kleinen Forschungsprojekten, die den Stoff für Hausarbeiten mit jeweils 15 bis 20 Seiten Umfang liefern sollen, viel weniger Freizeit, als ich mir erhofft hatte.
Dafür bildet sich um den Kern meiner Präsentationsgruppe aus dem Nachhaltigkeit-Kurs eine Gruppe von Austauschstudierenden, die die knappe Freizeit umso besser nutzt. Wir kochen zusammen, gehen zum Bowlen oder Schlittschuhlaufen, erkunden die Stadt, warten auf den zugefrorenen Seen stundenlang auf Nordlichter und besiegen die finnischen Studierenden bei einem Rodelwettbewerb in der Kategorie, wer mit den meisten Leuten auf einem einzigen Schlitten den (einzigen) Hügel im Zentrum von Oulu herunterkommt – wir schaffen acht. Die anderen erkunden auch das Nachtleben von Oulu, das allerdings trotz der 200.000 Einwohner eher mit dem einer Kleinstadt vergleichbar ist. Auch Sightseeing lohnt sich in Oulu eher mäßig: Die Lage des Stadtzentrums an einer Flussmündung mit vielen kleinen Inseln ist schön, die Hauptattraktionen – unter ihnen die Statue des den Marktplatz bewachenden Toripolliisi – hat man aber mit einem Nachmittagsspaziergang durch. Viel zu bieten hat Oulu trotzdem. Der Secondhandladen Likke im Süden der Stadt verleiht kostenlos Wintersportausrüstung für die Langlaufloipen, die Stadt und Umgebung durchziehen, oder für Ausflüge des Erasmus-Studierendennetzwerks in nahe gelegene Skigebiete. Vom Betreiber des Wohnheims bekommen wir Leihfahrräder – auch im Winter nicht das schlechteste Fortbewegungsmittel, denn das die Stadt durchziehende gut ausgebaute Netz aus meterbreiten Radwegen, die so geführt sind, dass sie keine größeren Straßen kreuzen, ist bestens geräumt. Mit meinen Mitbewohnern fahre ich in eine der drei Kletterhallen der Stadt, wo sie mir das Bouldern beibringen, und besuche die Sauna im Nachbarwohnheim, die wir an den Wochenenden reservieren können. Und einmal die Woche probe ich mit dem Teekkarikuoro, dem Chor der technischen Fakultät, bei dem trotz des Namens alle mitsingen dürfen, und lerne neben finnischen Studentenliedern auch einige finnische Studierende kennen.
Im Laufe der Zeit lebe ich mich in Oulu ein, aber aufregend bleibt es immer. Anfang März verbringe ich auf einer vom Erasmus-Studierendennetzwerk organisierten Reise eine Woche in Saariselkä, mitten im finnischen Lappland, wo ich mit meinen Erasmus-Freunden in einer Ferienwohnung mit Sauna untergebracht bin. Gemeinsam gehen wir auf den schneebedeckten Fjells im Urho-Kekkonen-Nationalpark wandern, fahren Huskyschlitten, füttern Rentiere, sehen die ersten richtigen Nordlichter und baden auf einem Tagesausflug nach Norwegen in der eiskalten Barentssee. Eine deutsche Fennistik-Austauschstudentin, die ich in Oulu kennengelernt habe, nimmt mich ein paar Wochen später für ein Wochenende mit nach Turku. Dort findet dieses Semester Osma statt, ein Treffen der Fennistik- und Finnougristik-Gilden aus ganz Finnland, mit Stadtrallye und Feier am Abend. Mit dabei: eine Gruppe von neun deutschen Fennistikstudierenden und -interessierten, die zwar nicht alles verstehen, was auf Finnisch vor sich geht, aber auch bei allem mitmachen und Spaß haben, und ich habe das Gefühl, die Finnen freuen sich auch über uns. Nur ein paar Tage danach mache ich mich schon wieder auf in Richtung Norwegen, für eine Woche Roadtrip auf die atemberaubende Lofoten-Inselkette mit ihren Fjorden und Fischerdörfern umgeben von alpiner Bergkulisse.
Als ich Anfang April wieder nach Oulu zurückkehre, schneit es noch ein letztes Mal, doch die Zeit der zweistelligen Minusgrade ist endgültig vorbei. Das Wetter ist geprägt von Schneematsch und Glatteis, was das Radfahren etwas zu einer Herausforderung macht. Auch das Semester neigt sich langsam dem Ende zu: In der Woche nach wappu, dem ersten Mai, der in Finnland der Feiertag der Studierenden ist, habe ich noch eine letzte Abschlusshausaufgabe, dann sind meine Kurse vorbei. Am gleichen Wochenende singe ich auf dem Konzert meines Chores in der Aula der Universität – passend zum eine Woche später stattfindenden Eurovision Song Contest verkleiden wir uns als ESC-Acts und singen Eurovision-Klassiker aus Finnland und dem übrigen Europa. Die meisten meiner Freunde haben jetzt frei, während ich noch an meinen Hausarbeiten arbeite. Schlittschuhlaufen können wir nicht mehr, stattdessen treffen wir uns zum Picknick auf den Inseln im Stadtzentrum, an einer der öffentlichen Feuerstellen zum Barbecue oder an der schwimmenden Sauna im Stadtteil Värttö, in der man sich nach dem Saunagang durch einen Sprung ins doch noch recht kalte Flusswasser abkühlen und danach im Whirlpool wieder aufwärmen kann. Anfang Mai sind noch die letzten Eisreste auf demgroßen See zu sehen, Mitte Mai sind wir schondrin – fünf Minuten mit dem Fahrrad von unserem Wohnheim entfernt liegt ein kleiner Badestrand. In der Nacht auf den 15. Mai ist die letzte nautische Dämmerung des Frühlings. Von jetzt an wird es nachts nicht mehr dunkel, und die Tageslänge steigt unaufhaltsam weiter an auf mehr als 20 Stunden Sonnenlicht am Tag. Innerhalb weniger Wochen schmilzt der letzte Schnee weg, die Bäume treiben, die Temperaturen steigen auf über 20° und Ende Mai fühle ich mich schon wie mitten im Sommer. Auf einem dreitägigen Solotrip nach Helsinki habe ich das Gefühl, noch nie in einer so grünen Stadt gewesen zu sein. Die meisten Austauschstudierenden reisen bis Ende Mai ab, im Juni bin ich allein in meiner Wohnung, aber einige meiner engeren Freunde sind noch da. Gemeinsam haken wir ein paar der letzten Punkte auf der To-Do-Liste ab, gehen zum Klettergarten neben dem Schlittenhügel und wandern durch Pilpasuo, ein Moor in der Nähe der Stadt.
Dann brechen auch für mich die letzten Tage in Oulu an. Es ist so viel passiert während meinem Auslandsaufenthalt und ich habe so viel erlebt, dass ich nicht die Möglichkeit, aber auch gar nicht das Bedürfnis habe, ein eindeutiges Fazit zu ziehen. Die Zeit hier war die vielleicht aufregendste, anstrengendste und herausforderndste meines Lebens, aber vor allem auch unglaublich schön. Nicht alles ist so gekommen, wie ich es mir erhofft hatte: ich hatte wenig Kontakt mit Finnen außerhalb des Chores, und fließend Finnisch spreche ich immer noch nicht wirklich. Aber immerhin konnte ich einer Vorlesung auf Finnisch folgen, mich mit Muttersprachlern auf Standardfinnisch unterhalten – wenn auch in eher gemächlicherem Tempo – und habe das Gefühl, mittlerweile auch die Umgangssprache halbwegs zu verstehen. Und manches ist so viel besser geworden, als ich es mir je vorgestellt hätte. Ich hätte nie gedacht, dass es mir so viel Spaß machen würde, Bouldern, Schlittschuhlaufen oder Eisbaden auszuprobieren, oder dass ich mich in meinem Zimmer in der Vierer-WG im sechsten Stock des Wohnheims mit den schneebedeckten Baumkronen vor dem Fenster so zuhause fühlen könnte. Und vor allem hätte ich nie gedacht, dass ich in so kurzer Zeit so tiefe Freundschaften mit anderen Austauschstudierenden schließen würde. Vielleicht liegt es an Oulu – wer auf ein Erasmus-Semester im Winter ausgerechnet an eine der nördlichsten Universitäten Europas will, muss wohl ähnlich verrückt sein wie ich. Vielleicht liegt es an den Erfahrungen, die wir in dieser außergewöhnlichen Situation miteinander geteilt haben, oder es war einfach nur Glück, dass wir uns gefunden haben. Aber wir haben in diesem Frühjahr in Oulu so viel Spaß miteinander gehabt und uns so gut verstanden, dass ich mir gar nichts anderes vorstellen kann, als dass unsere Gruppe irgendwie bestehen bleiben wird. Als ich Mitte Juni nach fast einem halben Jahr in Oulu zurück nach Deutschland reise, bin ich deshalb wehmütig, aber nicht wirklich traurig. Ich fühle es nicht als einen endgültigen Abschied. Ich weiß, dass ich meine Freunde wiedersehen werde, und ich weiß, dass ich wiederkommen werde.
Eineinhalb Monate später, am Tag, bevor ich anfange, diesen Text zu schreiben, machen wir einen Videoanruf in unserer Gruppe. Nicht alle haben Zeit, aber die meisten schauen zumindest mal kurz vorbei. Wir reden ein bisschen über unsere Zeit in Oulu, aber auch über die Zeit seitdem, über unsere Zukunft. Und ein Vorschlag kommt auf: Wir könnten solche Anrufe doch öfter machen, vielleicht sogar regelmäßig. Freunde fürs Leben? Wer weiß. Die Erfahrungen, die ich in Oulu gemacht habe, bleiben auf jeden Fall.
Text und Bilder: Lorenz Staudacher