Ein Jahr in Budapest - Gabriel Schild
„Nach Ungarn?“ – auf diese Frage, gepaart mit einem bemüht-interessierten oder verständnislos-fragenden Blick, habe ich häufig antworten müssen, als ich mich vor zweieinhalb Jahren dazu entschied, mich auf einen Erasmus-Aufenthalt in Budapest zu bewerben. „Ist doch eine schöne Stadt.“ – lautete die einfache Antwort, wenn ich gerade keine Lust hatte, mich im Detail für meine Wahl zu rechtfertigen. Doch natürlich war das nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn es mir nur um die Attraktivität des Zielortes gegangen wäre, hätte ich mir auch „modischere“ Erasmus-Städte, etwa Paris, Barcelona oder Bologna, aussuchen können.
Tatsächlich wurzelte die Entscheidung für Ungarn in einer früheren Entscheidung, nämlich der, Ungarisch zu lernen. Auch eine Wahl, die mir viel Unverständnis einbrachte („Und wozu braucht man das?“, „Bist du etwa Orbán-Fan?“, „Ungarisch… Ist das mit Russisch verwandt?“). Meistens erkläre ich es so: Als angehender Linguistik-Student musste ich Sprachkurse belegen und mir dafür eine einigermaßen „exotische“ Sprache aussuchen. Weil ich mit studentischem Budget in das Zielland reisen können wollte, suchte ich mir die nächstgelegene nicht-indoeuropäische Sprache aus, die ich auf der Karte finden konnte: Ungarisch. Ich kannte zudem schon einige Ungarn, die mir bereits erste Wörter und Sätze beigebracht und damit mein Interesse geweckt hatten. Folglich belegte ich dann in den ersten Semestern meines Studiums Ungarischkurse bei Dr. Mária Kelemen (Kelemen tanárnő) am Institut für Finnougristik der LMU. Nachdem ich den 4. Semesterkurs abgeschlossen hatte, besaß ich zwar solide Kenntnisse in Grammatik und Vokabular und konnte auch mittelschwere Texte ohne viele Probleme lesen, jedoch merkte ich, dass ich, um Ungarisch wirklich sprechen zu lernen, für einige Zeit nach Ungarn würde gehen müssen.
Da traf es sich gut, dass ich sowieso schon immer vorgehabt hatte, während meines Studiums einen Auslandsaufenthalt zu machen. Erasmus in Ungarn zu machen, war also naheliegend. Da es eine richtige Großstadt sein sollte, kam nur Budapest infrage. Tatsächlich gab es ein Erasmus-Abkommen zwischen dem Institut für Finnougristik der LMU und dem Lehrstuhl für Ungarisch als Fremdsprache der Eötvös-Loránd-Universität (ELTE) in Budapest. Ich bewarb mich also bei Frau Kelemen auf einen Platz, wobei ich mir als einziger Bewerber keinerlei Sorgen machen musste, nicht genommen zu werden. Problemlos möglich war es auch, den Aufenthalt von Anfang an auf zwei Semester auszulegen, da mir ein halbes Jahr im Ausland zu wenig gewesen wäre. Es wäre aber auch möglich gewesen, zunächst mit einem Semester zu planen und den Aufenthalt nachträglich zu verlängern.
Nachdem alle Formalitäten für die Anmeldung erledigt waren, begann mein Auslandsjahr schließlich im September 2022. Über ein ungarisches Immobilienportal hatte ich eine schöne, zentral gelegene Wohnung gefunden, wobei mir meine mittelmäßigen Ungarischkenntnisse sicherlich geholfen hatten. Andere Erasmus-Studierende, die auf englisch- oder deutschsprachigen Seiten gesucht hatten, zahlten teilweise für ein WG-Zimmer mehr als ich für ein Einzelapartment.
An der Universität stand mir neben den Sprachkursen des Instituts für Ungarisch als Fremdsprache das gesamte Erasmus-Kursangebot der geisteswissenschaftlichen Fakultät offen, wobei mit Ausnahme der Sprachkurse die meisten Kurse auf Englisch angeboten wurden. Die Sprachkurse waren hervorragend organisiert und halfen mir zusätzlich zur Sprachpraxis im Alltag sehr, mein Ungarisch zu verbessern. In den englischsprachigen Kursen waren die Erwartungen an internationale Studierende eher gering, sodass ich mit verhältnismäßig wenig Aufwand sehr gute Noten bekam. Die Atmosphäre war oft familiär. Besonders kleinere Seminare fanden nicht selten in den Büros der Dozierenden statt, die teilweise sogar mit Sofas und Sesseln ausgestattet waren. Die Englischkenntnisse der ungarischen Dozierenden waren nicht immer perfekt, ich fand sie aber durchgängig sehr freundlich und kompetent.
Abseits der Uni gibt es in Budapest zahlreiche Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung. Die Stadt bietet jede Menge Sehenswürdigkeiten, zahlreiche Museen, Thermalbäder, viele Kulturveranstaltungen sowie ein buntes Nachtleben. Das Umland der Stadt lässt sich extrem günstig per Zug oder Bus erkunden. Empfehlenswert ist das vielfältige, günstige Kursangebot des Unisports (BEAC). Am Donauufer sowie auf der Margareteninsel in der Donau gibt es viele schöne Joggingrunden. Auch für das Fahrrad gibt es um die Stadt herum viele schöne Strecken. Etwas unerwartet war für mich, wie sehr man als Erasmus-Student in der „internationalen Blase“ gefangen ist, selbst dann, wenn man die Landessprache lernt. Auch überraschend war es, wie international Budapest ist und wie viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern man dort treffen kann. Ein paar „echte“ Ungarn lernte ich auch kennen, allerdings weitaus weniger als zunächst erhofft. Was Ungarn als Zielland angeht, ist meine erste Feststellung, dass der Unterschied zu Deutschland nicht allzu groß ist. Kulturell gehören beide Länder zu Mitteleuropa, was sich nicht nur in Architektur und Küche, sondern auch in der Einstellung der Leute äußert. Politisch hat Ungarn aufgrund seiner rechtspopulistisch-autoritären Regierung leider nicht zu Unrecht ein schlechtes Image. Budapest strahlt als oppositionelle, pro-europäische Insel jedoch eine Atmosphäre des Widerstands aus. Ein Jahr in Ungarn war definitiv ein Lehrstück darüber, wie wichtig es ist, die Demokratie in Deutschland am Leben zu erhalten und gegen illiberale Angriffe von rechts zu verteidigen.
Anders als die meisten Erasmus-Studenten in Budapest hatte ich mich für Ungarn entschieden, um meine Sprachkenntnisse zu verbessern. Da ich nach einem Jahr recht fließend Ungarisch sprach, hat mein Auslandsaufenthalt seinen Zweck erfüllt. Das Erasmus-Jahr war jedoch viel mehr als nur ein Sprachaufenthalt. Ich hätte vor Beginn des Aufenthalts nicht erwartet, wie viele interessante Menschen ich kennenlernen würde, wie viele prägende Erfahrungen ich machen würde und wie sehr mir Budapest ans Herz wachsen würde. Nach einem Jahr war ich zwar auch froh, meine Münchner Freunde endlich wiederzusehen und mein Studium an der LMU fortzusetzen, doch werde ich definitiv noch häufig nach Budapest zurückkehren. Es ist nicht leicht, eine „exotische“ Sprache wie Ungarisch von Deutschland aus zu lernen. Im Gegensatz zum Englischen ist man nicht permanent damit umgeben, und die Möglichkeiten, außerhalb des Sprachkurses zu üben sind sehr begrenzt. Daher empfehle ich es jeder und jedem, der oder die eine kleinere Sprache lernt (z.B. auch Finnisch oder Estnisch), einen längeren Aufenthalt im Zielland zu erwägen, denn anders ist es kaum möglich, eine solche Sprache wirklich zu beherrschen. Ein Auslandaufenthalt ist eine einmalige Gelegenheit, neue Perspektiven einzunehmen, seinen Horizont zu erweitern, und nach der Rückkehr möglicherweise auch einen neuen Blick auf die Heimat zu gewinnen.
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Text und Bilder: Gabriel Schild