Lehrstuhl für Finnougristik
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Erfahrungsbericht 'Erasmus bei uns - WiSe 2011/12'

Der Pechvogel und der Glückspilz im Lande der Löwen

 

Fahrrad, Laptop, elegante und sportliche Kleidung, Welt-Sparpläne und Ängste.

München, ich komme! Nicht mit dem Zug oder mit dem Bus, aber mit Vati. Neben dem Schlosspark Nymphenburg, in Gern wartet ein schönes, tüchtiges Frauchen auf mich. Mit leckerem Kuchen und vielen praktischen Ratschlägen. Licht aus, Haustüre sicher schließen, Postkasten leeren, Heizung aus, Tür auf, Flurfenster weit offnen. Kellertür immer zu lassen. Bettwäsche zum Wechseln oben auf der Kommode … Und auch mit kulturellen Angeboten: Viele Prospekte, kleine Hefte warten auf mich auf meinem Schreibtisch. „Sie sollen es unbedingt sehen!!“ Eine wichtige und später heimische Information war, dass der Eintritt in alle Museen an jedem Sonntag nur einen Euro kostet!! „Das ist meine Stadt.“ – dachte ich.

Die nette Wohnung ist in der Kratzerstraße. Mir gefällt dieser spielerische Name, Kratzer, und auch diese blumige Gartenstadt. Besonders liebe ich unsere Küche, wo ich das schöne Radio Arabella hören kann und auch tanzen, wenn ich dazu Lust habe. Und die Orangemarmelade meines Frauchens – das kann man nie vergessen!! Die Uni ist weniger als eine halbe Stunde mit dem Fahrrad. Ich rolle gern. Die Tage fliegen so schnell, wie mein Fahrrad an dem Löwenbräu Keller vorbeirollt …

Die Tage laufen, aber die Leute beeilen sich nicht besonders in München. Erst Amtsführung, Verwaltung, Kreisverwaltungsreferat und weniger später: Feten, Schwarzfahren, Münchener Freiheit!!

Aber dieser Wechsel war ein Prozess. Wie der weise U-Bahn Slogan sagt: „Bitte, zurückbleiben!“ Diese Distanz kann man eingangs im Ausland erleben. In den ersten Zeiten fühlte ich mich wie ein echter Pechvogel. Einmal ist mir sogar gelungen, mich aus der Wohnung auszusschließen. Ich musste viele Stunden in der Kälte warten, ohne irgendeine sinnvolle Tätigkeit … Später habe ich einen „sehr vorteilhaften“ zweijährigen Vertrag mit meiner liebsten O2 abgeschlossen, obwohl ich das deutsche Netz nur für diese wenige Monate brauchte. Jetzt - fünf Monate später -  bekomme ich immer noch die Rechnungen, so habe ich schon Angst, wenn Post aus Deutschland kommt … Und sehen wir meine fantastische Produktion in der langen Nacht der Münchner Museen! Wie viel krengelte ich die ganze Nacht (es war unglaublich kalt), wie viele Möglichkeiten verpasste ich … In den ersten Zeiten konnte ich auch nicht verstehen, dass ich hier Frau Kinyik bin, ich fand es komisch, manchmal eher tragisch …

Aber Schritt für Schritt erlernte ich in Münich zu leben. Langsam verstand ich, wie großes Glück es ist, dass ich hier lernen kann. München ist eine wahre Schatzkammer, aber sie bleibt geschlossen, bis die Herzen der Menschen geschlossen sind!

 Jeden Tag gibt es etwas Neues. Es gibt aber auch einen beständigen, heimischen Platz: das Institut für Finnougristik. Dort gibt es kein „Muss“, nur „angebotene Müsse“. Es lohnt sich in den dritten Stock der Ludwigstraße 31 hochzuklettern! Für schöne (ungarische) Worte, für geistiges Brot. Die Veranstaltung ‛Landeskunde Ungarns‛’ schleudert einen Richtung Heimat …

„Die Weltstadt mit Herz“ - wie man die Stadt nennt - kann man in München wirklich fühlen und erleben. Überall einladende Dinge: Herzlich Willkommen bei der Commerzbank! Johannisbeer-Streusel, erstklassiges Bier, süße Tiere …

Aber - trotz der herrlichen Ludwig-Statuen, der großen, sicheren Radwege, Menschenmengen am Marienplatz, Schönheiten des Englischen Gartens, des besten Tunfischsalates in der Mensa …  - etwas fehlt. Vielleicht die nervöse Spannung, der wertlose Forint oder die kräftigen ungarischen Weine??

Man weiß es nicht, nur fühlt man es. Alles ist super, alle sind nett, aber fremd. Als Zufluchtsort funktionieren die Stabi und natürlich der Nymphenburger Schlosspark mit den Fabelwesen, den Schwänen.

Die Stabi öffnet um 8 Uhr und schließt um Mitternacht. Die Stabi - mit den großen deutschen Klassikern -  ist ein guter Freund in den schwierigen Zeiten. Die Uni-Kirche ist neben der Stabi. Wie dieses monumentale Gebäude sich von der Rolltreppe aus auf dem Weg nach oben entfaltet, ist umwerfend. Die weißen Kirchturmspitzen sind einfach unvergesslich.

In der Stabi sitzen alle „in dem Mund der anderen“, wie wir Ungarn es sagen. Aber nicht nur Seufzer, Husten, Blättern kann man hören, sondern auch die kreischenden Krähen. Schade, schade, dass man seine ganze Aufmerksamkeit den Büchern widmen muss.

  Mein Lieblingsseminar war an jedem zweiten Dienstag Abend - von 20 bis 22 Uhr, in familiärer Atmosphäre, sogar mit Weintrinken! - Friedrich Schillers Schriften zur Ästhetik. Vorher dachte ich nie, dass ich einmal die Fähigkeit haben werde, eine zehnseitige philosophische Arbeit auf Deutsch schreiben zu können; aber es ist gelungen. Ich probierte zu illustrieren und zu beweisen - mit Schillers Hilfe -, dass wir durch das Spielen die Ewigkeit erfahren können. Das ist fast auch meine Lebensphilosophie. So kann man sogar durch einen kurzen Aufenthalt in München auch in seiner Identität gefestigt werden.

Ein weiterer Favorit war die St. Lukas Kirche, die sich majestätisch am Isarufer erhebt. Sie blickt auf das Deutsche Museum, vor der sich schlängelnden Straßenbahnlinie 19. Und daneben kann man sehen, wie die heroischen germanischen Männer - zur großen Freude der Touristen - auf den Isarwellen reiten können.

Auch ich habe diese Münchner - manchmal sonnigen, manchmal bewölkten - „Wellen“ geritten und fühle, dass ich jetzt eine reichere Frau Kinyik bin.