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Referat "Das Gedicht Hymnus und seine Vorläufer" (Mária Kelemen, 07. Dezember 2010)

Das Dorf Szatmárcseke, gelegen im nordöstlichsten Winkel, an der ukrainischen Grenze des heutigen Ungarn, zählt momentan an die 1500 Seelen. Eine scheinbar unbedeutende Siedlung, dennoch verbindet die Assoziation eines ganzen Volkes nichts weniger mit diesem Ort, als die Geburtsstätte der Nationalhymne.

Im Jahre 1815 zog Ferenc Kölcsey auf das Landgut seiner traditionsreichen Familie. Der studierte Jurist, Publizist, Sprachreformer, Übersetzer und Schriftsteller, einer der meist gebildeten Intellektuellen seiner Zeit, konnte sich von der Literatur nicht erhalten und war gezwungen, trotz des Habitus eines philosophierenden, reflektierenden Menschen, weit vom kulturellen Zentrum, von Bibliotheken und von Freunden entfernt zu leben und zu überleben.

„Ich lebe in diesem wilden und überaus einsamen Ort. Die Stadt Munkács liegt nahe bei Cseke, dennoch war ich nicht einmal dort. Ich bin stur. Und weil mir nicht gegönnt ist, mit denen, die ich am meisten liebe, zusammen zu sein, verlasse ich selten dieses elende Dorf. Es gab mal ein ganzes Jahr, wo ich meinen Hof nicht verlassen habe.“ - schreibt Kölcsey in seinem Tagebuch.

Das ungarische Pendant von dem bedeutendsten Denker der deutschen Aufklärung, von Immanuel Kant, der fast sein ganzes Leben lang in Königsberg, unweit der Ostseeküste lebte, aber die See nie sah.
In einem Brief an einen Freund formulierte Kölcsey mit der resümierenden Attitüde auf die vergangene Zeit zurückblickend:
Zwischen 1815 und 1823: In Cseke arbeitete ich äußerst wenig. Aber  meine Lieder erhielten hier die perfekte Form.

Am 22. Januar 1823 schrieb Kölcsey das Gedicht Hymne, auf ungarisch Himnusz, in Kölcseys Original nach lateinischem Muster Hymnus. Kaum zwei Jahrzehnte später, im Jahre 1844 vertonte Ferenc Erkel das Gedicht. Die Komposition aus Text und Melodie erklang am 2. Juli 1844 das erste Mal im Nationaltheater. In sehr kurzer Zeit wurde es unser nationaler Gesang. Auch wenn das Werk von Kölcsey und Erkel offiziell erst seit 1903 als Nationalhymne fungiert, wurden die Verse der ersten Strophe sehr schnell populär und oft gesungen.

Himnusz, die Hymne hat einen besonderen Stellenwert, eine Art Schlüsselposition im gesamten Werk Kölcseys. Es repräsentiert die selten vorhandene Kongruenz zwischen poetischem und nationalem Charakter. Hymnus ist ein zentrales Kunstwerk des Paradigmawechsels vom Klassizismus zur Romantik, auf dem Weg von Kazinczy zu Mihály Vörösmarty und János Arany. Das Gedicht synthetisiert die Traditionen der so genannten nationalen Poetik von den mittelalterlichen lateinsprachigen Klageliedern über die Lyrik der Reformation bis hin zum klassizistischen Dániel Berzsenyi.

Der Hymnus ist ein perfektes Gedicht. Seine wahre Größe ist in der ästhetischen Qualität der unendlichen assoziativen Dimensionen, in der einwandfreien Struktur und in der konsequenten, von der Liebe zum Vaterland geprägten moralischen Haltung des Dichters zu suchen und zu finden. 

Die erste und die letzte Strophe des Gedichtes artikulieren eine Bitte, ein Flehen an Gott. Die beiden Rahmenstrophen sind nicht ganz identisch, die Inversion in der Satzstellung und die Variation des verbalen Prädikates im ersten Vers steigern den flehenden Charakter des Textes. Diese Strophen umfassen einen assymetrisch aufgebauten Text, in dem Kölcsey die ungarische Geschichte Revue passieren lässt.

Der geometrische Mittelpunkt des Gedichtes, die vierte Strophe, stellt auch den Wendepunkt des Textes dar. Die zweite und dritte Strophe schildern das paradiesische Land vor dem Sündenfall: Die Landnahme, die Überflut an Gaben der Natur sowie den zweifachen Ruhm, wie sich die Ungarn gegen die Türken und gegen Wien bewiesen haben. Nach der vierten Strophe, dem Wendepunkt thematisieren drei Strophen die Konsequenzen der Gottesstrafe, die die Ungarn wegen ihrer Sünden erleiden mussten. Die Strophen fünf und sechs sind in der rhetorischen Struktur des Gedichtes mit je einem Chiasmus/ Kreuzform 

ganz fest an die Strophen zwei und drei gebunden. Jedoch ist die Strophe sieben in dieser geschilderten Struktur redundant, sie hat keine historische Äquivalenz im ersten Teil des Gedichtes. In einem statischen Bild stellt die siebente Strophe den totalen Verfall und die vielen Opfer der Freiheitskämpfe dar. In dieser strukturellen Unregelmäßigkeit finden wir den Schlüssel zur Botschaft des Gedichtes. Segen und Unglück, Blühen und Verfall des Volkes können nicht im exakten Gleichgewicht stehen. Denn die Gnade Gottes beruht nicht auf dem Prinzip des Verdienstes. Sie ist gratis. So lehrt es die kalvinistische Theologie und so hat es der Dichter in seiner kalvinistischen Familie gelernt.

Kölcsey wählt bewusst den biblischen Kontext, der sehr gut mit den mittelalterlichen, kirchlichen Traditionen des Genres Hymne kongruiert. Die Geschichte der Ungarn wird im Gedicht als Schöpfungsgeschichte inszeniert, die Ereignisse der Vergangenheit und der Gegenwart als Konsequenzen von Segen und Fluch Gottes interpretiert. Einer der Schlüsselbegriffe des Gedichtes ist das erste Wort, das in Fokusposition, im Auftakt des ungarischen Originals auftritt, Isten, 'Gott'.  Er erscheint als personifizierte, subjektive Macht, als höchster Genius, der tief in den Verlauf der Geschichte eingreift und scheinbar alles lenkt. Gott ist aber gleichzeitig durch die menschliche Kraft zu beeinflussen, wie es die Gebetsform deutlich zeigt: Er ist anzusprechen und anzuflehen. Gottes Wille ist es, dass das Volk wegen seiner Sünden balsors, 'Unglück' ertragen muss. Balsors, 'Unglück' ist ein weiterer Schlüsselbegriff der Dichtung, der in den Rahmenstrophen explizit genannt ist und in den Strophen 4 bis 6 plastisch erörtert und geschildert wird. In dem schon erwähnten statischen Bild der siebenten Strophe, die keine historische Pendantstrophe hat, finden wir den dritten Schlüsselbegriff des Textes, szabadság, 'Freiheit'. Das ist das Hauptprinzip, wonach jedes Volk auch ohne Deus ex machina, ohne das Eingreifen Gottes streben muss. Das Prinzip der Freiheit ist unabhängig von Gottes Willen und vom Unglück. Die Freiheit fordert im konkreten wie auch im abstrakten Sinn des Wortes Opfer und stellt somit den höchsten Wert dar.

Kölcseys vielseitige Bildung und literarische Kenntnisse wurden schon zu seinen Lebzeiten von den Zeitgenossen bewundert. Er war einer der Wenigen, der die alte ungarische Literatur am besten kannte. So ist es eine Selbstverständlichkeit, dass zahlreiche formale Interferenzen zwischen Kölcseys Hymnus und der Poesie vergangener Jahrhunderte zu finden sind. Die Literaturwissenschaft hat schon lange eruiert, dass Kölcsey das Kreuzreimschema des Hymnus sowie das Prinzip der zeilenweise wechselnden Silbenzahl bewusst dem Rákóczi-nóta, 'Rákóczi-Lied' entliehen hat. Das 'Rákóczi-Lied', ein Volkslied aus dem 18. Jahrhundert, galt lange als inoffizielle Hymne der Ungarn und wurde später sowohl von Berlioz als auch von Ferenc Liszt vertont. Kölcsey verwendete mit Vorliebe Suffixreime und in etlichen Versen des Hymnus feine Assonanzen, Reime, in denen nur Vokalidentität vorhanden ist. Auffallend ist die hohe Zahl der Alliterationen. All das sind solche akustischen Mittel, die dem Text auch ohne Musik eine gewisse Melodie verleihen.

Kölcseys Hymnus erschien zuerst 1828 in der literarischen Zeitschrift Aurora. Es ist interessant zu erwähnen, dass im nachfolgenden Kommentar nicht die erste Strophe vom Rezensenten zitiert wird. Nicht die Passage, die mit Erkels Musik prompt das ganze Volk eroberte, seit 1903 offiziell als Nationalhymne fungiert und im Artikel 64 der Verfassung aus dem Jahr 1990 als eines der vier nationalen Symbole Ungarns verankert ist.

(Mária Kelemen)