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Einführung zum Miklós Radnóti-Gedenkabend (Mária Kelemen, 14. Januar 2010)

Tagebuchausschnitt von Miklós Radnóti: 17. Mai 1942

„Wie fange ich nur an …

[...]

In meinem Zimmer hängen drei Familienbilder an der Wand, drei Photokopien. Die Kopie eines ziemlich unbekannten Arany-Gemäldes von Barabás, von diesem Gemälde nur der Kopf und die Kopie eines unlängst entdeckten Gemäldes von Simó, das den alten Kazinczy darstellt. Angesichts des Kazinczy-Bildes, aber auch Aranys fragen fast alle „uneingeweihten“ Besucher: „Dein Onkel?“ oder: „Ein Verwandter?“ Ja, antworte ich dann, Arany und Kazinczy. Und sie sind in der Tat meine Groß- und Urgroßonkel. Und Verwandte sind für mich der Konvertit Balassi, die Evangelischen Berzsenyi und Petőfi, der Kalvinist Kölcsey, die Katholiken Vörösmarty und Babits oder die Juden Ernő Szép und Milán Füst, um näher zu kommen. Und die Alten? Der mit Berzsenyis Augen gesehene Horaz ebenso wie der Jude Salomon, der Psalmist König David, oder Jesus, oder Matthäus, oder Johannes. Ich habe zahllose Verwandte. Aber keinesfalls nur Salomon, David, Ernő Szép oder Füst! Ich habe entferntere und nähere Verwandte. Damit sage ich Dir nichts Neues, glaube ich. Ich empfinde es so, und an dieser „inneren Realität“ können Gesetze nichts ändern. […]

Ich bin ein ungarischer Dichter, die Landschaften meines Vaterlandes tun sich mir auf, der Strauch reißt mir nicht ein größeres Loch als anderen, der Baum stellt sich nicht auf die Zehenspitzen, damit ich seine Früchte nicht erreiche.“

In unserer letzten Veranstaltung gedachten wir des Schriftstellers und Sprachreformers, Ferenc Kazinzcy.

Die heutige Festveranstaltung widmen wir dem herausragenden ungarischen Lyriker und Übersetzer, Miklós Radnóti.

Radnóti gehörte schon zu seinen Lebzeiten zu den bedeutendsten Schriftstellern, war Vertreter der dritten Generation der legendären literarischen Zeitschrift Nyugat, 'Westen'.

Seit seinem Tod ist sein Lebenswerk Teil des literarischen Kanons. Aus ihm ist Lehrstoff in den Schulen geworden. Zu meinen Schulzeiten - wegen des erfreulich großen und wertvollen Umfanges des Lehrmaterials beendete man die Behandlung der ungarischen Literatur mit dem Kennenlernen seiner Lyrik. Schöner und würdiger Ausklang der literarischen Studien für Jugendliche vor der Reifeprüfung!

Radnótis dichterische Attitüde ist - unter den vielen ähnlich großartigen - besonders hervorragend. Seine menschliche Haltung und seine Schicksalstragödie gebieten Ehrfurcht.

Seine Dichtung spannt sich zwischen den traumatisch-tragischen Umständen seiner Geburt und seines Todes. Radnóti schreibt und komponiert seine Gedichte immer bewusst, die Intention und die Technik sind nur im seltenen Falle nicht im Einklang.

Das Werk des mit 35 Jahren ermordeten Dichters ist natürlich ein Fragment geblieben. Und die fragmentarisch gebliebene Lyrik Radótis handelt bis zum Ende davon, dass sie gewaltsam unterbrochen wird, also ein Fragment bleibt. Trotz alledem hinterließ Radnóti ein perfektes, abgeschlossenes lyrisches Werk, das eine außerordentliche und fast beispiellose Einheit der Dichtung und des persönlichen Schicksals repräsentiert.

Ich freue mich sehr, den Literaturwissenschaftler und Schriftsteller Dr. Gábor Schein unter uns begrüßen zu dürfen.
Ich bitte ihn, seinen Vortrag über Miklós Radnóti zu halten.

(Mária Kelemen)