Lehrstuhl für Finnougristik
print


Navigationspfad


Inhaltsbereich

Gastvortrag Dr. Kukku Melkas

Bericht zum Gastvortrag am 2. Juli 2007

Dr. Kukku Melkas (Helsinki/Turku)

"Die finnisch-estnische Schriftstellerin Aino Kallas (1878-1956) als Kosmopolitin und innovative Künstlerin"

Am 2. Juli 2007 stand Aino Kallas, die in ihrem literarischen Schaffen das kulturelle Leben Finnlands am Anfang des 20. Jahrhunderts entscheidend mitprägte und neue Wege des künstlerischen Ausdrucks fand, im Mittelpunkt des Vortrags von Dr. Kukku Melkas. Die Vortragende hat sich unter anderem auf die Schriftstellerinnen des beginnenden 20. Jahrhunderts spezialisiert und in ihrer Dissertation das Prosawerk von Aino Kallas untersucht (Kukku Melkas, Historia, halu ja tiedon käärme, Helsinki 2006). Im Rahmen ihres Vortrags stellte sie den schriftstellerischen Werdegang von Aino Kallas sowie die literarischen Besonderheiten des Werkes der 1878 geborenen Autorin im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit dar. Aino Kallas wurde als eines von fünf Geschwistern in eine Familie geboren, die sich bereits in den 1870er Jahren bewusst dazu entschieden hatte, die finnische Sprache als Sprache der Familie und des alltäglichen Lebens anzunehmen. Während die Söhne der Familie Krohn, Ainos Brüder Ilmari und Kaarle, wissenschaftliche Karrieren anstrebten, widmeten sich Aino und ihre Schwestern Aune und Helmi dem schriftstellerischen Schaffen und dem literarischen Leben.

Aino Krohn, die nach ihrer Heirat mit dem estnischen Folkloristen und späteren estnischen Botschafter Oskar Kallas von 1903 bis 1918 im estnischen Tartu lebte, engagierte sich im kulturellen Bereich, verfasste Abhandlungen und Rezensionen für literarische Zeitschriften und gehörte zwischen 1904 und 1916 als einzige Frau der Noor-Eesti-Bewegung an, die sich die Verbindung internationaler Einflüsse mit den eigenen literarischen Tradition als Gegenpol zur konservativen Haltung zum Ziel gesetzt hatte. Im Jahre 1915 gelang es Aino Kallas, deren Haus schon bald ein Zentrum des intellektuellen Lebens in Tartu geworden war, ihre eigene literarische Kreativität durch die Arbeit an der Biographie der Dichterin Lydia Koidula frei zu setzen: Nachdem sich Aino Kallas durch ihre Rolle als Mutter von fünf Kindern über längere Zeit in ihrem Schaffensprozess blockiert gefühlt hatte, vermochte sie, angesichts der Situation Koidulas, die sich in ihrer Ehe und Mutterrolle eingeengt und erstickt fühlte, ihre eigene Situation deutlicher zu sehen und sich als ebenso eingeengt in der Ehe und als zwischen zwei Ländern zerrissen zu erkennen, in deren jeweiliger Kultur sie sich als Außenseiterin fühlte. Diese Zerrissenheit zwischen zwei Ländern, Sprachen und Kulturen zieht sich auch durch das spätere Werk von Aino Kallas.

Im Gegensatz zu ihrer Schwester Helmi Krohn, die sich auf Biographien von Künstlerinnen und Schriftstellerinnen spezialisierte, sah Aino Kallas die Literatur als Diskussionsforum der Frauen der Oberschicht an und verstand Literatur als Ort, an dem neue Identitäten und Konzepte der Mutter- sowie Geschlechterrollen durch im 19. Jahrhundert verwurzelte Diskurse und Gegendiskurse entworfen und unter Einbeziehung der sich verändernden moralischen Normen und der sexuellen Autonomie der Frauen gefestigt werden konnten.

Aino Kallas schuf ihren neuen Frauentypus aus einer Verbindung von Mythos und Gegenwart, indem sie auf estnische Mythen oder folkloristische Elemente zurückgriff und somit davon profitierte, dass deren Inhalt allgemein bekannt war und verknüpfte diese Elemente dann mit zeitgenössischen Fragestellungen und Problemen. Dabei strukturierte sie jedoch, wie Kukku Melkas betonte, die traditionell auf eine männliche Heldenfigur und passive Frauenfiguren angelegten Plotstrukturen so um, dass die Frauenfiguren aus ihrer Passivität herausgelöst wurden. Auf diese Weise erhielten die Frauenfiguren ein deutlich aktiveres und selbstbestimmteres Profil und die Bindung der weiblichen Identität an Mutterschaft und Körper wurde durchbrochen und für alternative Konzepte geöffnet.

Den größten Teil ihres Werkes, so auch die Der tötende Eros-Trilogie, verfasste Aino Kallas, die zwischen 1922 und 1934 und somit auch zur Entstehungszeit der Trilogie (1923-1928) in London lebte, in finnischer Sprache, so dass ihr einziges ursprünglich estnischsprachiges Werk das nach ihrer Rückkehr nach Tallinn 1935 erschienene Werk Mare und ihr Sohn ist, in dem sie historische Themen mit bibelähnlichen metrischen Elementen verbindet.

Im Anschluss an den inspirierenden Vortrag bot sich die Gelegenheit zur Diskussion mit der Vortragenden, wodurch das Bild von Aino Kallas und ihrem Wirken abgerundet wurde.

Katri Annika Wessel