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IBZ-Veranstaltung "Zoltán Kodály - der Musikforscher und Sprachwissenschaftler"

Zoltán Kodály "Nagyszalontai köszöntő"Die tönende Sprache und Zoltán Kodály

Dr. Károly Gerstner, PhD

Es ist wohl allgemein bekannt, dass eines der wichtigsten Merkmale (Attribute) der menschlichen Rasse das eigenartige Mittel ist, womit die Mitglieder der verschiedenen Gemein-schaften ihre Meinung und unterschiedlichen Eindrücke über die wirkliche oder für solche vorgestellte Welt zum anderen Mitmenschen übermitteln können. Dieses Mittel wird auf Deutsch Sprache und auf Ungarisch nyelv genannt. Die natürliche (und ursprüngliche) Wesensform, die physische Verwirklichung (Realisierung) dieses abstrakten, nur im Bewusstsein der Sprecher existenten/nur in unserem Gehirn
gespeicherten Verständigungsmittels (Kommunikationsmittels), ist die Rede.
          Dieses Kommunikationsmittel selbst wird in den unterschiedlichen Sprachen im Grunde auf zweierlei Weisen bezeichnet. Aufgrund der ersten wird die Benennung eines der wichtigsten Sprechorgane, d. h. der Zunge, metonymisch auf das Zeichensystem übertragen. Das ist der Fall im Ungarischen (nyelv), im Finnischen (kieli), im Türkischen (dil), im Lateinischen (lingua, und daher auch in jeder neulateinischen Sprache), im Russischen, Slowakischen und Tschechischen (jazyk) und wohl auch noch in zahlreichen anderen Sprachen. Bei der zweiten Lösung unterscheiden sich die Bezeichnungen für ‘Sprechorgan’ bzw. für ‘Kommunikationsmittel’ auf der lexikalischen Ebene (hinsichtlich der Lautreihen) voneinander: das ist der Fall u. a. in den germanischen Sprachen. Im Deutschen wird statt Zunge das Wort Sprache für das Kommunikationsmittel verwendet (und mutatis mutandis ist dasselbe auch in den skandinavischen Sprachen der Fall). [Es sei aber angemerkt, dass es im Deutschen in der älteren und poetischen Sprache auch Beispiele für die andere Benennungsweise gab und gibt. Das ahd. zunga bedeutete neben ‘Zunge’ auch ‘Rede; Sprache’, im Mhd. wurde zunge metonymisch auch für ‘Volk, Land, Heimat’ verwendet, und im poetischen Stil kann Zunge auch ‘Sprache’ bezeichnen.]
          Das deutsche Wort Sprache ist ein ablautendes Abstraktum zum Verb sprechen: aufgrund dieser Betrachtungsweise wird also auch lexikalisch die tönende Sprache, d. h. die Rede betont. Im Niederländischen wird statt tong ‘Zunge’ das Wort taal zur Bezeichnung des Kommunikationsmittels verwendet. Auch dieses Wort hängt mit dem Begriff des Sprechens/Redens zusammen: die Bedeutung des niederländischen Wortes vertellen – womit taal zusammenhängt – ist ‘erzählen, berichten’ (vgl. man noch engl. to tell).
          Aus den angeführten Beispielen geht hervor, dass unsere Vorfahren die Rede für die verwirklichte (aktualisierte) Sprache hielten – und dafür hatten sie einen guten Grund. Im Leben der Sprachen hat natürlich auch die Schrift eine wichtige Rolle, aber sie ist kein unerlässliches Erfordernis der Sprache. Das kann ja von zwei Seiten bewiesen werden. Einerseits lernen die Kinder sprechen, bevor sie schreiben könnten. Andererseits sind uns zahlreiche Sprachen bekannt, deren Schriftlichkeit nur auf kurze Vergangenheit zurückgeht bzw. werden zahlreiche Sprachen auch noch heute in der Welt gesprochen, die über keine Schriftlichkeit verfügen.

Die Rede als tönende Sprache veränderte sich mit all ihren Merkmalen im Laufe der Zeit und sie ist auch heute den Veränderungen ausgesetzt. Es soll hier ein Zitat aus dem Jahre 1938 von Zoltán Kodály stehen: „Semmi sem jellemző annyira egy nyelvre, mint sajátos hangzása. Olyan ez, mint a virág illata, a bor zamata, a zománc, az opál tüze. Megismerni róla a nyelvet már messziről, mikor a szót még nem is értjük. Minden nyelvnek megvan a maga hangszíne, tempója, ritmusa, dallama, egyszóval zenéje. A magyarét egyre többen fújják hamisan.” [Nichts ist charakteristischer für eine Sprache, als ihr eigenartiger Klang. Es steht gerade so, wie mit dem Duft einer Blume, dem Bukett des Weines, dem Glanz des Schmelzglases oder dem Feuer des Opals. Man erkennt daran die Sprache schon von weitem, während man das Wort selbst noch nicht einmal versteht. Jede Sprache hat eine eigene Klangfarbe, ein eigenes Tempo, einen eigenen Rhythmus, eine eigene Melodie, also mit einem Wort: eine eigene Klangart (wörtlich: Musik).“]
          Welche Merkmale sind nun kennzeichnend für die realisierte Sprache (also für die Rede) im Allgemeinen und speziell für die tönende ungarische (Standard-)Sprache? Der Lautbestand (Phonembestand) – den das Alphabet der einzelnen Sprachen mehr oder weniger genau widerspiegelt – kann durchaus charakteristisch sein: so im Ungarischen z. B. das kurze, gerundete (labiale) tiefe (velare) a (apa ‘Vater’, haza ‘Heimat’, kapar ‘kratzen’); einige palatale (mouillierte) Konsonanten: gy, ny, ty (gyerek ‘Kind’, lágy ‘weich; mild’, nyom ‘Spur’, anya ‘Mutter’, tyúk ‘Huhn’, latyak ‘Matsch’); die phonologische Opposition der kurzen und langen Laute sowohl bei den Vokalen als auch bei den Konsonanten (hat ‘sechs’: hát ‘Rücken’, vet ‘säen; werfen’ : vét ‘sich vergehen gegen etw.; etw. begehen’, örül ‘sich freuen’ : őrül ‘verrückt werden’, tol ‘schieben’ : toll ‘Feder’; hoz ‘bringen’ : hozz ‘bring!’); das Fehlen der Diphthonge (die in einigen Dialekten doch vorhanden sind!). Im Auslaut können die kurzen Vokale o und ö nicht stehen (lottó, videó, euró), die kurzen Vokale a (11,22%) und e (10,02%) kommen statistisch gesehen häufig vor (in spontaner Rede gemessen). Die so genannte Vokalharmonie (zum Wortstamm mit velarem bzw. palatalem Vokal treten nur Endungen mit ebenfalls velarem bzw. palatalem Vokal: ház-ak-ban [‘Haus’-Pl.-‘in’ Dat.] ’in Häusern’; lép-eget-ek [‘schreiten’-IterSuff.-1Sg.] ‘mit kleinen Schritten oder langsam treten, gehen’) ist noch recht gut wahrzunehmen (besonders bei Wortformen (Morphemkonstruktionen), die aus Stämmen finnougrischer oder türkischer Herkunft gebildet werden). In der Lautstruktur der Wortformen sind die Vokale und die Konsonanten recht gut ausgeglichen vertreten (45 Vokale auf 55 Konsonanten im Durchschnitt). Ein sehr starker Charakterzug der ungarischen Rede ist, dass die Artikulation der Vokale immer vollständig ist, d. h. es gibt im Ungarischen keine reduzierten Vokalphoneme (reduzierte Vokale können aber in spontaner, schneller Rede natürlich vorkommen, sie sind aber keine Phoneme).
          Über diese Erscheinungen hinaus, die auch in der Schrift wiedergegeben werden können, gibt es auch noch andere Merkmale der Sprachen im Allgemeinen, die in der herkömmlichen Schrift nicht aufgezeichnet werden (da es sehr kompliziert und unzulänglich wäre): diese Erscheinungen werden in der wissenschaftlichen Fachsprache suprasegmentale Merkmale genannt. Zu diesen gehört z. B. die Wortbetonung: es ist wohl allgemein bekannt, dass die Wortbetonung in den finnougrischen Sprachen, so auch im Ungarischen, immer auf die erste Silbe fällt, unabhängig von der Länge oder der morphologischen Struktur des Wortes: tavasz ‘Frühling’, kiszabadulhat ‘jd. kann sich befreien’ telefon, külügyminisztérium ‘das Ministerium des Äußeren’. [Viele Ausländer würden z. B. das ung. Wort szerelem automatisch auf der zweiten Silbe betonen (szerelem); dagegen würden Ungarn (oder Finnen) das deutsche Wort beginnen für sie auf ganz natürliche (aber für deutsche Ohren wohl ungewöhnliche) Weise auf der ersten Silbe betonen (beginnen; und natürlich alle Vokale schön voll ausgesprochen)].
          Fürs Ungarische ist auch kennzeichnend, dass die Länge der Vokale gar nicht damit zusammenhängt, ob der Vokal in betonter offener oder unbetonter geschlossener Silbe steht: do-bo-gás ‘Getrampel’ ist nie dó-bogás, ha-ta-lom ‘Macht’ ist nie há-ta-lom. Ein niederländischer Junge, der Ungarisch lernte, hat am Anfang statt konyha ‘Küche’ nur kony, statt eladó ‘verkäuflich; zu verkaufen’ elá gesagt, denn aufgrund der niederländischen Betonungsregeln müssen die Wörter mit solcher Lautstruktur so ausgesprochen werden. (In der spontanen, emphatischen (von Gefühlen geladenen) Rede gibt es natürlich Abweichungen von diesen Gesetzen, aber das ist wieder eine Frage der aktuellen Gesprächssituation.)
          Wegen der gebundenen Wortbetonung ist im Ungarischen auch die Satzbetonung (oder genauer die Sequenzbetonung) ein wichtiges Merkmal. Das betrifft im Allgemeinen eine Wortfügung (ein attributives oder adverbiales Syntagma): in diesen wird im Grunde das Attribut oder das Adverb betont; z. B. piros alma ‘roter Apfel’, három ember ‘drei Menschen’, a gyerek könyve ‘das Buch des Kindes’, széken ül ‘jd. sitzt auf dem Stuhl’, tegnap jött ‘jd. ist gestern angekommen’ usw. Jede Sprache wird auch durch eine eigene Satzmelodie (Intonation) und durch das durchschnittliche Sprechtempo charakterisiert.
          Wie andere Bauelemente der Sprache, haben sich auch diese suprasegmentalen Merkmale des Ungarischen verändert, oder zumindest konnten sie sich während der Jahrhunderte und Jahrtausende verändern. Der Unterschied zu den heutigen Veränderungen lag vielleicht nur in der Schnelligkeit (eventuell etwas langsamer), in der Ausbreitung und in der Tiefe dieser Prozesse. Wegen der Natur der Sache können wir aber nicht konkret feststellen, hinsichtlich welcher Lage sich die tönende ungarische Sprache verändert hat. Mit Hilfe der geschriebenen Sprache, d. h. der Sprachdenkmäler, der älteren Grammatiken und Wörterbücher können wir mehr oder weniger genau auf das Lautsystem, die grammatische Struktur und auf den Wortschatz schließen; aber aufgrund dieser Teilsysteme der Sprache können wir die realisierte Sprache, den Ton, den Klang, kurz: die Rede nicht rekonstruieren. Der Linguist der späteren Zeiten oder von heute hat nur zwei Möglichkeiten dazu. Erstens wenn es aus früheren Zeiten eventuell Aufzeichnungen oder Anmerkungen über die Art und Weise der Rede gäbe – solche stehen uns aber nur sehr spärlich oder überhaupt nicht zur Verfügung. Zweitens: seit Ende des 19. Jahrhunderts, seit dem Erfinden der Tonaufzeichnung kann den Forschern die Entwicklung der Technik auf diesem Gebiet große Hilfe leisten.
          Trotz des Fehlens konkreter Aufzeichnungen haben wir doch indirekte Beweise dafür, dass das Sprechtempo des Ungarischen bereits in den letzten Jahrhunderten der urungarischen Periode (ca. 500–900 n. Chr.) und am Anfang der altungarischen Zeit (bis ungefähr 1200) hinsichtlich der früheren Perioden wohl schneller geworden ist. Darauf können zwei sprachliche Tatsachen hinweisen. Erstens: der Schwund der (ohne morphologische Funktion stehenden) auslautenden Vokale in der lexikalischen Grundform der Wörter und auch in Wortformen (die Apokope) kann auch mit einem höheren Sprechtempo zusammenhängen; Beispiele dafür aus der Tihanyer Urkunde (1055): hodu, heute had ‘Heer’, nogu, heute nagy ‘groß’, zilu, heute szil ‘Ulme’. Zweitens: der Ausfall eines unbetonten Vokals im Wortinneren (Synkope) – gewöhnlich in der zweiten oder dritten offenen Silbe – erfolgte wohl durch ein schnelleres Sprechtempo – oder aber wurde die Synkope gerade als Mittel zur Beschleunigung des Tempos verwendet? Einige Beispiele: árok Nom. ‘Graben’ (*árokok) – árkok PlNom.; bokor Nom. ‘Strauch’ (*bokorot) – bokrot Akk.; szerelem Nom. ‘Liebe’ (*szerelemes) – szerelmes ‘verliebt’. Diese Erscheinung wird in der ungarischen historischen Sprachwissenschaft „Horger-Gesetz“ genannt, nach dem berühmten Sprachhistoriker und Mundartforscher Antal Horger. Für die Synkope gibt es auch in der heutigen gesprochenen Sprache Beispiele: akkumlátor statt akkumulátor ‘Batterie’, átlakítni statt átalakítani ‘umformen, umbilden’, tanítni statt tanítani ‘lehren, unterrichten’ usw. In der überhastigen Rede werden sogar ganze Silben „verschluckt“: sz’tkezet statt szövetkezet ‘Genossenschaft’, tás’ság statt társaság ‘Gesellschaft’, szaksze’t statt szakszervezet ‘Gewerkschaft’ usw.
          Aber diese Erscheinungen treffen nur einen kleinen Teil der zahlreichen Merkmale der gesprochenen Sprache.

Die grundlegende Frage jeder Untersuchung jeglicher Veränderungen lautet: was ist der Ausgangspunkt, zu dem wir einen neuen Zustand ins Verhältnis stellen können? Wegen der bereits erwähnten Unzulänglichkeiten können die Veränderungen der gesprochenen Sprache der vergangenen 100–120 Jahre an den Regeln oder Konventionen der ungarischen Hochsprache (oder Standardsprache) gemessen werden, die ja aufgrund einer gemeingesellschaftlichen Übereinstimmung („Vereinbarung“) zustande gekommen ist. Sie ist diejenige normative und ideale (eher: idealisierte) Sprachvariante, deren Existenz zahlreiche Linguisten in Zweifel stellen (sogar für schädlich erklären), die aber trotzdem existiert. Für Ausländer, die Ungarisch (oder Deutsch, Französisch, Finnisch usw.) lernen, existiert auf jeden Fall eine normierte, als einheitlich geltende Sprachvariante, deren Regeln – auf ganz natürliche Weise – in den Lehrbüchern zusammengefasst sind und aufgrund derer die Lernenden eine fremde Sprache erlernen können. Die ungarische Hochsprache entwickelte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf Basis der Schriftlichkeit. Allmählich ist dann auch die gesprochene Variante der Standardsprache entstanden, die durch die bereits erwähnten Züge gekennzeichnet ist (oder war?). Die Schauspieler richten (richteten?) sich in der Aussprache, die Antragsteller beim Abfassen eines offiziellen Antrags in der Schrift nach dieser idealisierten, für gesamtgesellschaftlich gehaltenen Sprachvariante. Die Schrift, das Geschriebene– vor allem ein belletristischer Text – ist aber mehr erwogen, hat mehr Respekt inne und ist weniger wandelbar als die Rede. Darum hören wir oft, man müsse so reden, wie man schreiben würde. Die Missdeutung dieser Aussage kann dann zur unnatürlichen Aussprache führen, wobei man die natürliche Aufeinanderwirkung der Laute außer Acht lässt und alles buchstäblich ausspricht; z. B. ad-ja ‘er/sie gibt es’ [aggya] – [*adja]; kert-je ‘sein/ihr Garten’ [kertye] – [*kertje]; szín-pad ‘Bühne’ [szímpad] – [*színpad].
          Das höhere Ansehen bedeutet aber nicht, dass sich diese bevorzugte Sprachvariante nie verändern würde – das widerspricht der Wesensform einer lebenden Sprache. Es ist aber gar nicht egal, was, wie und in welchem Tempo der Veränderung ausgesetzt ist und in welchem Maße diese Veränderung die Verständigung beeinflusst. Denn es kann nicht außer Acht gelassen werden, dass die Kommunikation auch heute vor allem mit Hilfe der tönenden Sprache (der Rede) geschieht. Beim Erzielen einer höchst effektiven Wirkung hat neben dem sprachlichen Inhalt auch die akustisch-physische Qualität (d. h. die Verständlichkeit) eine außerordentlich wichtige Rolle. Und auch die Tatsache darf nicht unbeachtet bleiben, dass die tönende Sprache auch ästhetische Qualität (Rhythmus und Melodie) in sich birgt, wodurch sie ein unentbehrliches Material auch der Poesie und der Musik ist. Hier können wir dann auf die diesbezügliche Auffassung von Zoltán Kodály zu sprechen kommen.
          Kodály war nicht nur ein Sprecher sondern auch ein Gelehrter der ungarischen Sprache. Er studierte an der Budapester Universität ungarische (und deutsche) Philologie; in seiner Dissertation behandelte er ein (zum Teil) ungarisches sprachwissenschaftliches Thema: „A magyar népdal strófaszerkezete“ [Die Strophenstruktur des ungarischen Volksliedes; 1906]. Als Musikwissenschaftler und Komponist interessierte er sich in noch höherem Grad für die Fragen der tönenden ungarischen Sprache. Er war sich nämlich dessen bewusst, dass die gemeinsame Wirkung von Musik und Text am besten, stärksten und natürlichsten ist, wenn sie in der Artikulation, im Rhythmus und in der Betonung aufeinander abgestimmt sind. Im Dezember 1937 hielt er einen Vortrag mit dem Titel „A magyar ejtés romlásáról“ [Über die Verschlechterung der ungarischen Aussprache], in dem er seine diesbezüglichen Erfahrungen zusammenfasste. Um diesen Vortrag entstand eine heftige Diskussion: es gab Linguisten (z. B. Gyula Laziczius), die behaupteten, die dargestellten Erscheinungen seien bloß individuelle Unvollständigkeiten, die die Traditionen der ungarischen Aussprache gar nicht beeinflussten. Andere wieder waren der Meinung, dass die von Kodály behandelten problematischen Fragen der Ausgangspunkt ungünstiger Veränderungen sein könnten.
          Lassen wir nun einige von den Fehlern sehen, die Kodály damals für typisch hielt! Zuallererst erwähnte er die Fehlerhaftigkeiten der Artikulation und des Rhythmus. In der Bildung der Vokale betrachtete er als schwersten Verstoß, dass der Mund bei der Aussprache halb geschlossen ist (wie im Englischen, sagte Kodály), wodurch die Vokale eine ganz verschiedene Klangfarbe bekommen. Unter den Konsonanten sah er bei der Bildung des r den größten Fehler: das regelmäßige ungarische r ist ein alveolarer Laut, also ein Zungenspitzen-r mit 2–3 Schwingungen, aber in jener Zeit verbreitete sich stark das uvulare r (Zäpfchen-r). Diese Bildungsform gilt im Ungarischen als einer der auffallendsten Sprechfehler.
          Kodály wurde auch darauf aufmerksam (wohl auch als Musiklehrer), dass das charakteristische Merkmal der ungarischen Betonung – nur die erste Silbe wird voll betont, doch werden die Vokale der folgenden, unbetonten Silben vollständig ausgesprochen – schwächer wurde. Er hielt ebenfalls die Erscheinung für negativ, dass die langen (geminierten) Konsonanten (vor allem in schneller Rede) kürzer ausgesprochen wurden (kelemes statt kellemes ‘angenehm’). Das ist ein ziemlich schwerer Fehler, denn die Opposition kurz–lang hat – wie bereits erwähnt – bei den ungarischen Lauten eine relevante, bedeutungsunterscheidende Rolle: hal ‘Fisch’ : hall ‘hören’; örül ‘sich freuen’ : őrül ‘verrückt werden’. Infolge dieser Erscheinung verändert sich auch die Rhythmik der ungarischen Rede, was die wichtigsten Gründe der ungarischen Versbildung (Betonung und Silbenzahl) angreift.
Beispiel für die Unterscheidung von offenem kurzem und halbgeschlossenem e bei KodályDie meisten ungarischen Dialekte unterscheiden auch heute noch das offene kurze e vom halbgeschlossenen ë, was auch in den Volksliedern deutlich zu hören war und ist (gyerëk ‘Kind’, mëntem ‘ich bin gegangen’). In der ungari-schen Standardsprache fehlt aber diese Unterscheidung: hier gilt nur das offene e als Phonem, und daher gibt es auch keinen eigenen Buchstaben für das halbgeschlossene ë. Kodály hat diesen Unterschied in seinen Noten konsequent angegeben und war bestrebt, diesen Laut in die ungarische Standardaussprache und ins ungarische Alphabet einzuführen. Diese Initiative brachte ihm aber keinen Erfolg. Das einzige Werk, in dem diese zweierlei e-Laute konsequent angegeben sind, ist das große ungarische Wörterbuch vom Ende der 1950-er Jahre.
          Kodály schlug also Alarm und dies blieb auch nicht ohne Erfolg. Im Oktober 1938 wurde der erste Wettbewerb in der guten ungarischen Aussprache organisiert: auch der ungarische Rundfunk übermittelte dieses Ereignis (vor dem 2. Weltkrieg gab es noch zwei solche Wettbewerbe). Bei der Beurteilung der Produktion waren die Artikulation, die Betonung und die Intonation die wichtigsten Gesichtspunkte. Auch unter der Wirkung dieser Wettbewerbe hat sich die ideale Aussprache bei öffentlichem Auftreten herausgebildet, die dann für die Ansager des Rundfunks (und später auch für die Reporter und Moderatoren des Fernsehens) erforderlich war.

Und wie steht es heute mit diesen Fragen? Zuerst muss festgestellt werden, dass sich die Möglichkeiten zum öffentlichen Sprechen in den letzten 15-20 Jahren in Ungarn enorm vermehrt haben. Es sind zahlreiche neue Fernsehsender und eine Unmenge von Rundfunksendern gegründet worden, und all diese übergießen das Publikum mit allerlei Texten. Diese Sender beeinflussen die Verwendungsform der gesprochenen Sprache in außerordentlichem Maße. Die allgemeine Erfahrung ist, dass sie die Erwartungen hinsichtlich der standardisierten oder idealisierten Aussprache bei weitem nicht erfüllen. Heute gilt es fast als gewöhnlich, dass sich Reporter und Moderatoren sowohl in kommerziellen als auch in nicht-kommerziellen Fernseh- und Rundfunksendern äußern, die nur mit kleineren oder größeren Sprechfehlern sprechen können, was auch als Muster für das Publikum gelten kann.
          Aufgrund von Beobachtungen und Forschungen lässt sich feststellen, dass die bereits von Kodály dargestellten Probleme auch heute noch oder heute wieder vorhanden sind. Solch eine unerwünschte Erscheinung ist die unvollkommene und infolge dessen verkürzte Artikulation der langen Vokale, wodurch eine unbetonte, polternde Sprache entsteht. Auch die Bildung des Zungenspitzen-r liefert große Schwierigkeiten für zahlreiche Ungarn. Dieser Laut ist bei vielen unserer Mitbürger mittlerweile so schwach geworden, dass er akustisch oft dem l entspricht.
          Auch im Kreise der Intonationsformen gibt es zahlreiche Abweichungen von der Norm. Viele Sprecher lassen die Melodie selbst am Ende der Aussagesätze nicht sinken. So entsteht eine ununterbrochen schwebende Rede, wodurch die logisch-kommunikative Grenze zwischen den einzelnen Texteinheiten kaum wahrgenommen werden kann. Es gibt mehrere Radioreporter, die anstatt der für die ungarischen Sätze charakteristischen Satzmelodie fast singend sprechen, da sie wohl nicht wissen oder fühlen, wo und wie sie die Sätze betonen müssten. Man kann auch beobachten, dass die Betonung sogar bei einzelnen Wörtern nicht auf der ersten sondern auf der letzten Silbe liegt – es macht einen ganz fremden Eindruck.
          Eine allgemeine Veränderung hinsichtlich der Lage vor fünfzig oder hundert Jahren ist das erhöhte Sprechtempo. Der Vergleich der Resultate von früheren und heutigen Forschungen weist darauf hin, dass heute der Index des durchschnittlichen Sprechtempos 14 Sprechlaute/Sekunde ist: das ist die Schnelligkeit, mit der 1957 die Sportreporter im Rundfunk die Ereignisse übermittelt haben. Und es ist wohl bekannt, dass das Sprechtempo der direkten (und vor allem nicht sichtbaren) Sportsendungen immer schneller ist, als das der alltäglichen Rede. Dazu kommt noch, dass es sich hier nicht nur um das schnellere Aussprechen der einzelnen Wörter handelt, sondern auch darum, dass die Sprechpausen viel kürzer sind als gewöhnlich. Das Muster für die Beschleunigung des Sprechtempos ist heute neben den Sportsendungen nachdrücklich der alles wegfegende Schwung der Werbungen sowohl im Rundfunk als auch im Fernsehen, im Ungarischen genau so wie im Deutschen und wohl in allen (vielen) Sprachen. Diese Tatsache können wir als ein objektives Faktum betrachten, denn sonst ist die Beurteilung des Sprechtempos weitaus subjektiv und relativ: je langsamer man spricht, desto schneller scheint das Tempo eines anderen zu sein und umgekehrt. Wohl alle haben wir bereits die Erfahrung gemacht, dass in allen fremden Sprachen, die wir nicht (gut genug) beherrschen, in einem teuflischen Tempo geredet wird… Die Frage des Sprechtempos ist auch eine Generationenfrage: ältere Leute sprechen langsamer als jüngere – die Besonnenheit der Erfahrenen und der Schwung der Jugend, könnte man sagen.

[An diesem Punkt möchte ich Sie bitten, sich drei kurze Fragmente aus unterschiedlichen gesprochenen ungarischen Texten anzuhören: 1. vorgelesener literarischer Text; 2. Moderator eines kommerziellen Rundfunksenders; 3. spontanes Gespräch.]

Die erwähnten Erscheinungen gehören alle zu den sprachlichen Veränderungen. Die lebende, gesprochene Sprache verändert sich fortwährend, mal schneller, mal zügiger, mal tief greifender, mal nur oberflächlich – dadurch wird eine Sprache noch nicht von Grund auf anders. Ich kann mir aber als Subjekt, als Sprecher einer gegebenen Sprache (des Ungarischen oder des Deutschen oder welcher Sprache auch immer) ein eigenes ideales Bild über das Kommunikationsmittel schaffen, und mich nach diesem Ideal richtend, bin ich bestrebt, dieses Mittel am effektivsten zu gebrauchen – und den Sprachgebrauch anderer Mitsprecher mit solch tiefer Empathie wie möglich zu tolerieren…
         Das Wichtigste ist, dass wir einander immer gut verstehen: sowohl in konkretem (physisch-akustischem) als auch in übertragenem Sinne.